Künstliche Intelligenz ist im Marketing längst Alltag: von Kampagnenoptimierung und Personalisierung über Social‑Listening bis hin zu Conversational Commerce. Mit dem EU AI Act und der ISO/IEC 42001 kommen nun klare Leitplanken hinzu, die nicht als Bremse, sondern als Katalysator verstanden werden sollten. Für Marketing- und Digitalverantwortliche bedeuten beide Rahmenwerke vor allem drei Dinge: Transparenz, Steuerbarkeit und messbare Qualität.
- EU AI Act: Er unterscheidet nach Risiko (verboten, hoch, begrenzt/gering). Die meisten Marketing‑Use‑Cases (z. B. Generierung von Creatives, Chatbots für Leads, E‑Mail‑Betreffzeilen, Segment‑Optimierung) liegen in der Regel im Bereich begrenztes bzw. geringes Risiko, sind aber an Transparenz und Sicherheit gebunden, etwa bei AI‑Interaktionen (Nutzer müssen informiert werden) und bei generierten Inhalten (Kennzeichnung). Komplexere Szenarien – z. B. KI‑gestützte Bewertung, die den Zugang zu einem Dienst wesentlich beeinflusst, biometrische Analysemethoden oder manipulative Verfahren gegenüber vulnerablen Gruppen – können in höhere Risikoklassen fallen und strengeren Pflichten unterliegen oder unzulässig sein. Für General‑Purpose‑AI (GPAI), insbesondere Foundation‑ und Sprachmodelle (LLMs), gelten zusätzliche Transparenzanforderungen und, bei besonders leistungsfähigen Modellen, erweiterte Sorgfaltspflichten.
- ISO/IEC 42001: Die Norm definiert Anforderungen an ein AI‑Managementsystem (AIMS) – analog zu ISO 27001 für Informationssicherheit. Sie operationalisiert Governance, Risiko‑ und Lebenszyklus‑Management: von Data Governance über Modell‑ und Prompt‑Dokumentation, Human Oversight, Incident‑Management, Lieferantensteuerung bis zu kontinuierlicher Verbesserung. Vorteil: Wer ein AIMS etabliert, erfüllt viele AI‑Act‑Pflichten „by design“ und schafft auditierbare Nachweise.
Für Ihr Team heißt das: Sie brauchen einen verlässlichen Überblick über alle KI‑Einsätze, klare Prozesse, überprüfbare Kontrollen – und KPIs, die nicht nur Conversion, sondern auch Vertrauen und Effizienz abbilden. Genau das leistet ein AIMS nach ISO/IEC 42001.
Von Regulatorik zu Umsetzung: die Kern-Bausteine in der Praxis
1) Use‑Case‑Inventur und Risikoklassifizierung
- Erstellen Sie ein zentrales KI‑Inventar: Use‑Case‑Name, Businessziel, Marketingkanal, betroffene Daten, Output‑Typ (Text, Bild, Audio, Entscheidung), Automatisierungsgrad, beteiligte Modelle (GPAI/LLM), Owner.
- Klassifizieren Sie Risiken entlang des AI‑Act‑Rasters: beabsichtigter Zweck, betroffene Personen, mögliche Auswirkungen (Irreführung, Diskriminierung, Reputationsschaden), Kontrollmöglichkeiten (Human‑in‑the‑Loop), Kontext (z. B. Minderjährige, Gesundheitsbezug).
- GPAI/LLM‑Transparenz: Halten Sie Modell, Version, Provider, Trainingsdaten‑Transparenz, bekannte Limitierungen und Sicherheitseinstellungen fest. Fordern Sie Model Cards/Transparenzberichte an und dokumentieren Sie diese.
2) Daten‑Governance „fit for marketing“
- Datenminimierung und Zweckbindung: Nur Daten nutzen, die für den Kampagnenzweck erforderlich sind. Segmentierungslogiken dokumentieren.
- Rechtsgrundlagen und Einwilligungen: Consent‑Status, Widersprüche und Datenquellen sauber verknüpfen (CRM/CDP). ePrivacy und GDPR bleiben der Rahmen.
- Qualität und Bias: Stichproben, Drifts und Segment‑Verzerrungen überwachen (z. B. unfaire Ausschlüsse).
- Schutz sensibler Informationen: PII‑Redaktion in Prompts, Rolle‑/Rechtekonzept, Secrets‑Management, Schlüsselrotation.
- Content‑Herkunft: Wo sinnvoll, generierte Medien mit Content Credentials (z. B. C2PA) kennzeichnen; mindestens aber klar und deutlich kenntlich machen, dass Inhalte KI‑gestützt sind.
3) Prompt‑ und Modell‑Dokumentation
- Prompt‑Bibliothek mit Versionierung, Owner, Freigabestatus, Testfällen und erwarteten Ausgaben.
- Guardrails: Negativlisten, Stil‑Guides, Markenstimme, erlaubte Quellen; temperatur/Top‑P‑Settings und Kostenlimits.
- Modellregister: verwendete GPAI/LLMs, Feeds (RAG‑Quellen), Fine‑Tuning‑Artefakte, Evaluations‑Scores, rechtliche Hinweise (IP‑Risiken, Lizenz).
- Logging: Input/Output‑Protokolle mit Pseudonymisierung; Fehlerraten und „Halluzinations“-Metriken.
4) Human Oversight
- Definieren Sie Automationsgrade: „Assist“, „Review Required“, „Auto‑Publish mit Stichprobe“.
- RACI‑Modell für Freigaben: Wer prüft rechtliche Aspekte, Markenfit, Fakten? Welche Schwellenwerte lösen Pflichtprüfungen aus (z. B. bei Health Claims)?
- Incident‑Prozess: Melden, analysieren, korrigieren – inklusive Rücknahme fehlerhafter Creatives, Kund*inneninformation, Lessons Learned.
5) Vendor‑Due‑Diligence
- Sicherheits‑ und Compliance‑Nachweise: ISO 27001/SOC 2, Datenresidenz, Subprozessoren, Verschlüsselung, Löschkonzepte.
- AI‑spezifische Artefakte: Model Cards, Safety‑Policies, Missbrauchsabschätzungen, Red‑Team‑Berichte, Output‑Filterschichten.
- Vertragswerk: DPA, Auftragsverarbeitung, IP‑Freistellung, Nutzungsrechte generierter Assets, Rate‑Limits/Kontingente, Support‑SLAs.
- Risiko‑Tiering: Geschäftskritisch vs. experimentell; Notfall‑Exit und Portabilität (Modell/Prompt/Content).
Der 90‑Tage‑Fahrplan: Quick Wins und strukturierter Roll‑out
Phase 1 (Tage 1–30): Sichtbarkeit schaffen und Risiken beherrschbar machen
- Kick‑off & Mandat: Sponsoring durch CMO/CDO; AIMS‑Scope festlegen (Marketing, Vertrieb, CX).
- Inventur: Alle KI‑Use‑Cases in einem zentralen Register erfassen; GPAI/LLM‑Transparenz herstellen (Provider, Version, Datenflüsse).
- Policy Starter‑Kit: Kurzrichtlinie zu zulässigen Use‑Cases, Daten, Prompts, Kennzeichnung, Freigaben. „Shadow‑AI“ in Kanäle überführen.
- Transparenz in der Praxis:
- Chatbots/Assistants mit „Sie sprechen mit einer KI“ und Übergabe an Mensch ermöglichen.
- Kennzeichnung von KI‑generierten Creatives in Owned Media.
- Schnelle Data‑Hygiene: PII‑Redaktion in Prompt‑Pipelines, Secrets‑Management, RBAC in Tools (z. B. für Ad‑Konten und LLM‑APIs).
- Minimal‑Dokumentation: Prompt‑Vorlagen mit Versionierung, Use‑Case‑Steckbriefe, Freigabe‑Checklisten.
- Erste KPIs definieren:
- Trust: Beschwerdequote, Korrekturquote, Klarheit der Kennzeichnung (Audit‑Treffer).
- Conversion: CTR/CVR‑Baseline je Kanal.
- Effizienz: Time‑to‑First‑Draft, Cost per Asset, Kampagnen‑Durchlaufzeit.
Phase 2 (Tage 31–60): Kontrollen vertiefen und Qualität messbar machen
- AIMS‑Prozesse gemäß ISO/IEC 42001 formalisieren: Rollen, Schulungen, Änderungs‑ und Incident‑Management.
- Evaluations‑Framework für Modelle: Testsets (Marken‑/Regel‑Compliance, Faktentreue), Scorecards je Use‑Case; Freigabeschwellen definieren.
- Human‑in‑the‑Loop ausrollen: Pflichtprüfung für risikoreiche Claims, sensible Zielgruppen, Paid‑Assets mit hohem Budget.
- Vendor‑Due‑Diligence durchführen: Fragekatalog, Nachweise einholen, Risiken dokumentieren; Alternativ‑Provider bewerten.
- Data Governance festigen: Consent‑Kette bis zum Kanal nachziehen, Aufbewahrungsfristen und Löschprozesse etablieren.
- Transparenz erweitern: „How we use AI“-Seite, Verfahrensverzeichnis für KI‑Anwendungen, Kontakt für Rückfragen/Opt‑out.
- Risiko‑Workshops: Bias‑Checks und Red‑Team‑Sessions mit Beispieldatensätzen (z. B. diskriminierende Segmente erkennen).
Phase 3 (Tage 61–90): „By design“ operationalisieren und Wachstum heben
- Automatisierte Guardrails: Pre‑Publication‑Checks (Markenwörterbuch, Blacklists, rechtliche Trigger), Kosten‑/Rate‑Limits, Content‑Credentials bei Assets.
- Modell- und Prompt‑Ops: Rollout‑Planung, Canary‑Releases, Rollback; regelmäßige Re‑Evaluierungen (Drift‑Monitoring).
- KPI‑System produktiv:
- Trust: Markenvertrauensindex, Kennzeichnungs‑Auditquote > 95 %, Incident‑Zeit bis Behebung < 48 h.
- Conversion: Uplift‑Tests für KI‑variierte Creatives, Personalisierung vs. Kontrollgruppe.
- Effizienz: „Time‑to‑Market“ und Produktionskosten pro Asset/Kampagne; Anteil automatisiert freigegebener Low‑Risk‑Assets.
- Kommunikationsvorteil nutzen: Vertrauens‑Badges („AI responsibly used“), Cases zu Effizienz und Qualität, FAQ für Kund*innen.
- Intern skalieren: Schulungspfad für Redaktion, Performance‑Marketing, CRM; „AI Champions“ je Kanal.
- Vorbereitung auf Audit/Assessment: AIMS‑Handbuch, Nachweispaket (Use‑Case‑Register, Logs, Evaluations, Vendor‑Dossiers, Trainings).
Ergebnis nach 90 Tagen: Sie verfügen über ein gelebtes AIMS, das AI‑Act‑Pflichten adressiert, Risiken sichtbar macht und zugleich die Kreativ‑ und Kampagnenleistung messbar verbessert.
KPI‑Design und Business‑Impact: Compliance als Differenzierungsmerkmal
Ein reifes KPI‑Set verbindet Performance mit Vertrauensmetriken – und macht Compliance zum Wachstumshebel:
Trust
- Kennzeichnungs‑Konformität (Share korrekt markierter KI‑Assets).
- Fehler‑/Korrekturquote von AI‑Inhalten; Beschwerde‑ und Spam‑Report‑Rate.
- Transparenzwahrnehmung (Qualitäts‑/Vertrauensumfragen, NPS in Service‑Chats).
- Incident‑MTTR und Wiederholungsrate.
Conversion
- CTR/CVR‑Uplift bei AI‑optimierten Creatives, Betreffzeilen, Landingpages.
- Lead‑Qualität (MQL‑zu‑SQL‑Rate) bei KI‑gestützter Scoring‑Priorisierung.
- LTV/CAC‑Verhältnis bei personalisierten Journeys.
Effizienz
- Time‑to‑Market vom Briefing bis Go‑Live.
- Cost per Asset und Produktionsdurchsatz (Varianten/Tag).
- Media‑Effizienz: Kosten je Inferenz/1000 AI‑Requests vs. Performance‑Gewinn.
So zahlt sich „by design“ Compliance aus:
- Schnellere Freigaben dank klarer Oversight‑Punkte und automatisierter Checks.
- Weniger Rework durch definierte Prompt‑Standards und Evaluations‑Scores.
- Höheres Markenvertrauen durch konsistente Transparenz und nachvollziehbare Qualität.
- Wettbewerbsvorteil in Social‑Commerce und Performance‑Kanälen, weil kreative Varianten schneller getestet und skaliert werden können – ohne regulatorische Überraschungen.
Praktische Hinweise, um Momentum zu halten:
- Starten Sie dort, wo Wirkung und Risiko am größten sind (z. B. Conversational CX oder Paid‑Social‑Creatives).
- Nutzen Sie vorhandene Standards: Ihr ISO‑27001‑ISMS, QA‑Prozesse und DPA‑Frameworks lassen sich mit ISO/IEC 42001 verzahnen.
- Dokumentieren Sie nur so tief wie nötig, aber konsistent: Steckbriefe, Scorecards, Checklisten – keine Romanform.
- Bauen Sie eine „Transparenz‑Schicht“ für GPAI/LLM ein: Modell‑ und Versionshinweise, Restriktionen, bekannte Limitierungen, Ansprechpartner.
- Planen Sie Upgrades: Neue Modellversionen bedeuten neue Evaluationsläufe und ggf. Anpassungen von Prompts und Guardrails.
Fazit für Marketing- und Digitalverantwortliche: Der EU AI Act liefert das „Was“, ISO/IEC 42001 das „Wie“. Mit einem fokussierten 90‑Tage‑Fahrplan etablieren Sie ein AIMS, das compliance‑sicher, skalierbar und wachstumsorientiert ist. So verwandeln Sie Regulierung in einen Motor für Markenvertrauen, Kampagnenperformance und eine schnellere Time‑to‑Market.